ADHS, ADS & Neurodiversität – warum man anders denkt, fühlt und reagiert
- Eveline Kogler

- 11. Nov.
- 4 Min. Lesezeit
In den letzten Jahren hat sich unser Verständnis von Aufmerksamkeits- und Reizverarbeitungsbesonderheiten stark verändert. Was früher als „Störung“ bezeichnet wurde, betrachten wir heute zunehmend als eine Form menschlicher Vielfalt – eine Art, wie das Gehirn Informationen wahrnimmt, filtert und verarbeitet.
Neurodiversität beschreibt genau das:
Menschen sind unterschiedlich – in ihrer Wahrnehmung, in ihrem Denken und in ihrem inneren Tempo. Diese Unterschiede sind kein Fehler, sondern Teil der natürlichen Variation menschlicher Entwicklung.

ADHS und ADS – zwei Seiten derselben Medaille
ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) wird im Alltag häufig mit Unruhe, Impulsivität oder „Zappeligkeit“ verbunden. Doch ein großer Teil der Betroffenen zeigt gar keine sichtbare Hyperaktivität. Dieses Bild nennt man ADS (hypoaktive/überwiegend unaufmerksame Ausprägung).
Form | Typische Merkmale | Was von außen sichtbar ist |
ADHS (hyperaktiv-impulsiv) | innerer Drang nach Bewegung, schnelle Reaktionen, intensiver Affektausdruck | Aktivität, Lautstärke, „Nicht stillsitzen können“ |
ADS (unaufmerksam/traumhaft) | langsame Verarbeitung, Tagträumen, innere Überflutung durch Reize | „Ruhig“, „nett“, „zurückhaltend“, oft übersehen |
Gemischter Typ | Elemente von beiden | große Schwankungen möglich |
ADHS und ADS sind keine Frage des Wollens oder der Erziehung.
Sie sind neurobiologische Muster, die u. a. mit einer anderen Regulation von Dopamin und Noradrenalin im Frontalhirn zusammenhängen – also in jenen Bereichen, die für Aufmerksamkeit, Planung, Impulskontrolle und Motivation wichtig sind.
Und wie passt Autismus hier hinein?
Autismus (bzw. Autismus-Spektrum) betrifft ebenfalls die Wahrnehmungs- und Reizverarbeitung. Allerdings in anderer Form:
Informationen werden oft detailliert statt ganzheitlich verarbeitet.
Emotionen und Körpersignale werden anders reguliert.
Soziale Interaktionen können anstrengend oder ambivalent sein.
Routinen und klare Strukturen geben Sicherheit.
Neuere Forschung zeigt, dass sich ADHS und Autismus häufig überschneiden (Ko-Occurrence-Raten zwischen 30–70 %).
Menschen im Autismus-Spektrum sind nicht „gefühllos“ – oft fühlen sie zu viel, nur anders. Dadurch wirken sie von außen manchmal distanziert oder „in sich gekehrt“, während innen hohe emotionale Intensität herrscht.
Wie wird ADHS eigentlich diagnostiziert – und warum oft so spät?
ADHS/ADS ist keine spontane Feststellung, sondern eine klinische Diagnose, die auf mehreren Bausteinen beruht:
ausführliches Gespräch über die aktuelle Lebenssituation
Kindheitsanamnese (frühe Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster)
Beobachtung von Aufmerksamkeit, Affektregulation und Impulskontrolle
Fragebögen und standardisierte Screeningverfahren
Ausschluss anderer Ursachen (z. B. Erschöpfung, Trauma, Depression)
In Österreich erfolgt die Diagnose meist durch:
Klinische Psycholog*innen
Psychiater*innen
Kinder- und Jugendpsychiatrie
Fachärztliche Spezialambulanzen für Entwicklungs- und Neuropädiatrie
ADHS ist dabei immer entwicklungsgeschichtlich verankert.
Das heißt: Die Besonderheiten bestehen seit Kindheit oder früher Jugend, auch wenn sie erst später sichtbar oder belastend werden.
Warum viele Betroffene so lange unerkannt bleiben
Vor allem bei:
Mädchen und Frauen,
Menschen mit hoher kognitiver Begabung,
feinfühligen, ruhigen oder „braven“ Kindern
werden Symptome häufig falsch interpretiert:
„Sie ist halt sensibel.“
„Er ist einfach verträumt.“
„Sie bemüht sich eh sehr.“
„Er muss sich halt mehr zusammenreißen.“
Viele Betroffene entwickeln deshalb Strategien, die nach außen gut funktionieren – innerlich aber enorm erschöpfen:
Perfektionismus
Anpassung an Erwartungen
Unauffälligkeit als Selbstschutz
Kontrolle statt spontaner Ausdruck
Das kann zu:
emotionaler Erschöpfung,
Selbstzweifeln,
Reizüberflutung
und manchmal auch depressiven Symptomen führen.
Kinder & Jugendliche
Bei Kindern zeigt sich ADHS häufig:
im Schulkontext (Konzentration, Struktur, Arbeitsanbahnung)
im sozialen Miteinander (Reize, Nähe, Konflikte)
in der Emotionsregulation (Schnelligkeit von Affekten)
Wichtig ist:
Nicht jedes „zappelige“, „schüchterne“ oder „träumerische“ Kind hat ADHS.
Erst wenn das Erleben das Kind einschränkt, spricht man von einer Diagnose.
Bei Mädchen äußert sich ADHS häufiger still:
nach innen gerichtete Unruhe,
schnelles Grübeln,
hochsensibles Wahrnehmen von Stimmungen,
sozialer Anpassungsdruck.
Deshalb bleiben Mädchen häufig über Jahre unerkannt und entwickeln später häufiger Selbstwertprobleme oder Erschöpfungssymptome.
Erwachsene
Viele Erwachsene kommen erst spät zur Diagnose – oft nach:
Burnout,
Krisen in Beziehungen,
chronischer innerer Erschöpfung,
dem Gefühl „irgendetwas stimmt, aber ich weiß nicht was“.
In der Therapie erleben sie häufig Momente von tiefer Erleichterung:
„Jetzt ergibt mein Leben plötzlich Sinn.“
Die Diagnose ist hier kein Etikett, sondern ein Schlüssel zur Selbstverständlichkeit.
Neurodiversität ist nicht das Problem – die Welt drumherum oft schon
Wenn ein Gehirn anders funktioniert als die Mehrheit, kommt es nicht deshalb zu Schwierigkeiten, weil es „falsch“ wäre –
sondern weil Umgebung, Schule, Arbeitswelt und soziale Normen selten auf dieses „Andere“ ausgelegt sind.
Menschen mit ADHS/ADS im Alltag:
fühlen vieles gleichzeitig,
nehmen Details wahr, die andere übersehen,
haben eine lebendige innere Welt,
denken kreativ, quer und lösungsorientiert.
Das ist eine enorme Ressource.
Aber: Diese Ressource braucht Regulation, Ruhe, Sicherheit und innere Struktur, um sich entfalten zu können.
Wie häufig ist ADHS in Österreich?
Die aktuelle Forschung zeigt (vergleichbar mit internationalen Zahlen):
4–6 % der Kinder und Jugendlichen sind betroffen
2–3 % der Erwachsenen
in bis zu 60-70 % der Fälle bestehen die Merkmale bis ins Erwachsenenalter fort
Quellen:
Gesundheit Österreich GmbH – Gesundheitsportal: „ADHS bei Erwachsenen“
ADHS Austria – Multiprofessionelle Gesellschaft für ADHS in Österreich
ADAPT – Verein für Menschen mit AD(H)S – österreichischer Selbsthilfeverein für Kinder, Jugendliche & Erwachsene mit ADHS und deren Angehörige
Warum eine Diagnose kein „Stempel“ ist
Für viele ist die Diagnose der Moment, an dem Selbstvorwürfe weichen:
„Ich bin nicht faul.“
„Ich muss mich nicht mehr ständig erklären.“
„Ich kann anfangen, mich zu unterstützen statt zu überfordern.“
Die Diagnose dient nicht dazu, jemanden in eine Schublade zu legen.
Sie öffnet:
Sprachfähigkeit (ich kann beschreiben, was in mir passiert),
Behandlungswege (Therapie, Regulation, Strukturaufbau),
und Selbstmitgefühl (ich muss nicht mehr kämpfen, um „normal“ zu sein).
Und wie kann Psychotherapie hier unterstützen?
In meiner Arbeit (mit Schwerpunkt Hypnosepsychotherapie und tiefenpsychologisch fundierter Begleitung) geht es weniger darum, „Symptome zu bekämpfen“.
Es geht darum, sich selbst zu verstehen und den eigenen Rhythmus anzuerkennen.
Wesentliche Therapiebausteine
Innere Reizregulation und Selbstberuhigung
→ Lernen, das eigene Nervensystem zu spüren und zu regulieren.
Bindungs- und Selbstwertarbeit
→ „Mit mir ist nichts falsch“ wird zu einem inneren Gefühl, nicht nur zu einem Satz.
Arbeit mit inneren Anteilen (Ego-State / Schematherapie)
→ Welche inneren Stimmen treiben? Welche schützen? Welche brauchen Entlastung?
Hypnosepsychotherapeutische Trancearbeit
→ Zugang zu inneren Bildern, Körperempfinden, Ressourcen – ohne Druck, ohne Leistung.
Förderung von Strukturen, die nicht eng, sondern entlastend wirken
→ Individuelle Routinen, die Energie sparen statt Energie kosten.
Ziel ist nicht, „funktionierender“ zu werden.
Ziel ist, lebendiger zu werden – mit sich.
Wenn das innere Erleben endlich Sinn macht
Ich erlebe in Sitzungen oft Momente, in denen Patient*innen sagen:
„Jetzt verstehe ich mich zum ersten Mal.“
Diese Erleichterung entsteht, wenn man nicht mehr gegen sich arbeitet, sondern mit sich.
Neurodiversität ist eine Einladung, das eigene Wesen ernst zu nehmen.
Nicht anzupassen – sondern zu entfalten.
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